Frau und Herr W., beide Anfang 50, kamen zur Paarberatung in meine Praxis in Mannheim. Seit 23 Jahren zusammen, seit 10 Jahren verheiratet, beide Akademiker und in anspruchsvollen Jobs. Das Problem: Sie komme immer wieder abends genervt nach Hause, lasse ihren Stress in Form von schlechter Laune an ihrem Mann ab, der sich inzwischen immer ziemlich schnell zurückziehe, weil ihm diese schlechte Stimmung „zu viel“ sei. Zwei Wochen vor dem ersten Termin bei mir sei die Situation eskaliert, und Herr W. habe gedroht, auszuziehen, weil er das nicht länger mitmachen wolle. Die Stimmung zu Hause sei permanent schlecht, sie könnten sich nicht mehr normal unterhalten. Er habe sogar schon bei Freunden übernachtet und überlege sich, ganz auszuziehen.
Diese Art von Konflikt ist ein typisches Thema in meiner Beratungspraxis, in der ich sowohl mit Einzelpersonen als auch mit Paaren im Gespräch und körperorientiert arbeite. Was diesen Fall besonders macht: Die kreative Lösung, die das Paar erarbeitet hat. Deshalb beschreibe ich den Fall ausführlich.
Paarsituation und Hintergrund
Frau W. arbeite seit mehreren Jahren in einer Führungsposition in der Controlling-Abteilung einer mittelständischen Firma. Die Arbeit mache ihr inhaltlich nach wie vor Spaß, doch die Mitarbeiterführung stelle sie immer wieder vor große Herausforderungen. Oft wolle sie die Aufgaben am liebsten einfach selbst machen, dann würde es am schnellsten gehen, sagte sie. Gleichzeitig werde es immer anstrengender für sie, weil sie sich so immer noch mehr Arbeit aufhalse. Ihr Mann war ungefähr genauso lang in der Pharmabranche tätig. Seine Arbeit sei in Ordnung, interessant, aber längst nicht so herausfordernd wie ihre. Er wolle abends und am Wochenende einfach seine Ruhe, mal gemeinsam mit ihr fernsehen, ins Kino, sich über verschiedene Themen unterhalten, Ausflüge machen. Das sei in den letzten paar Jahren nicht mehr möglich gewesen, weil sie ständig unter Strom stehe, nur über ihre Probleme rede – ihm sei das inzwischen einfach zu viel. Er ziehe sich zu Hause immer schnell zurück und verlasse manchmal die gemeinsame Wohnung ganz. Sobald er dieses Thema oder auch ein anderes, konfliktbehaftetes Thema anspreche, reagiere Frau W. sehr schnell laut, aggressiv, rede viel. Herr W. sage dann gar nichts mehr und ziehe sich zurück. Diese Dynamik mache auch Frau W. zu schaffen, denn schließlich wünsche sich ja den Kontakt mit ihrem Mann, sie wolle mit ihm reden, die Probleme klären, auch körperliche Nähe wünsche sie sich, er ziehe sich aber immer weiter zurück. Das mache ihr eigenes Stresserleben nur noch größer. Ein Teufelskreis!
Anliegen
Das gemeinsame Anliegen für die Beratung: Frau W. und Herr W. wollen auf jeden Fall zusammenbleiben. Sie seien schließlich schon so lange ein Paar, und da gebe es so vieles, was sie verbinde. Wir präzisierten das gemeinsame Anliegen weiter: Die Kommunikation müsse sich verbessern, damit sich die destruktiven, verletzenden Konflikte in konstruktive Gespräche, auch über unterschiedliche Meinungen vewandelten. Sie wollten die Dynamik aus Angriff und Rückzug, aus Stress und Verletzung, verändern.
Lösungsansatz
Teil meines Ansatzes als Beraterin und Therapeutin ist die sogenannte Psychoedukation: die Vermittlung von Wissen über das zugrundeliegende Thema. Das „Sich-selbst-Verstehen“ und Akzeptieren ist oft ein wichtiger Schritt in Richtung Veränderung. Im vorliegenden Fall stellte ich dem Ehepaar W. die „Polyvagal-Theorie“ vor, die mir zum Verstehen der Beziehungsdynamik hilfreich erschien.
Ich beschreibe die Polyvagal-Theorie hier nicht umfassend, sondern nur die Aspekte, die mir für das allgemeine Verständnis wichtig erscheinen. Literaturempfehlungen gebe ich am Ende des Textes.
Die Polyvagal-Theorie
Die Polyvagal-Theorie wurde vom Neurowissenschaftler Stephen Porges entwickelt und beschreibt, wie unser autonomes Nervensystem (ANS) auf Stress, soziale Interaktionen und Sicherheit reagiert. Es steuert unsere Verteidigungsreaktionen.
Bis vor nicht allzu langer Zeit war das ANS bekannt als bestehend aus Sympathikus und Parasympathikus. Der Hauptnerv des parasympathischen Systems ist der Vagusnerv. Die Polyvagal-Theorie differenziert hier noch weiter. Der Vagus-Nerv hat zwei Ursprungsorte im Gehirn, einer liegt weiter vorne (ventral), der andere weiter hinten (dorsal). Die Fasern beider Ursprungsorte vereinigen sich zum Vagus-Nerv, wobei sie laut der Polyvagal-Theorie unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Sie werden hier dann auch ventraler Vagus und dorsaler Vagus genannt. Der sogenannte ventrale Vagus arbeitet mit vielen anderen Hirnnerven zusammen, der Vagus-Gruppe.
Die Theorie betont die Bedeutung des Vagus-Nervs für die Regulation von Emotionen und sozialen Beziehungen und erklärt, wie verschiedene Reaktionen des Nervensystems mit unserem Verhalten zusammenhängen. Mit Hilfe der Polyvagal-Theorie können wir uns und unsere Reaktionen – v. a. im Falle von Angst und Stress – besser verstehen. Sie erklärt, dass eine Defensivreaktion keine willentliche Handlung, sondern die unwillkürliche Anstrengung unseres Körpers ist, unser Leben zu retten. Und: wir haben die Möglichkeit, unser autonomes Nervensystem selbst und gezielt zu beeinflussen.
Die Polyvagal-Theorie unterscheidet zwischen drei Hauptzuständen des autonomen Nervensystems:
- Soziale Bindung und Entspannung (ventraler Vagus): Wenn wir uns sicher fühlen, aktiviert sich der „ventrale Vagus“ (ein Teil des Vagusnervs). Dies fördert soziale Interaktion, Kommunikation und Entspannung. In diesem Zustand sind wir offen für zwischenmenschliche Kontakte, können gut zuhören und fühlen uns wohl.
- Kampf- oder Fluchtreaktion (Sympathikus): Bei Bedrohungen oder Stress aktiviert sich das sympathische Nervensystem. Dies führt zu einer „Kampf-oder-Flucht“-Reaktion, bei der unser Körper mobilisiert wird, um entweder die Gefahr zu bekämpfen oder zu fliehen. Hierbei wird der Herzschlag schneller, die Atmung intensiver und der Körper ist in Alarmbereitschaft.
- Erstarren und Abschalten (dorsaler Vagus): Wenn die Bedrohung überwältigend ist und weder Kampf noch Flucht möglich sind, wird der „dorsale Vagus“ aktiviert. Dies führt zu einem Zustand des Erstarrens oder Abschaltens, bei dem der Körper stark heruntergefahren wird. Dies kann als Schutzmechanismus bei extremer Bedrohung dienen und äußert sich oft in Gefühlen von Hilflosigkeit, Lethargie oder emotionaler Taubheit.
(Hinweis: Es gibt noch zwei weitere Defensivreaktionen, Fawn und Faint, die ich hier nicht beschreibe. Siehe dazu z.B. Jochims, Meistere den Stress.)
Im Laufe der Evolution haben diese Verteidigungsstrategien – soziale Unterstützung, Mobilisierung, Erstarren – unser Überleben erfolgreich gesichert. Im Alltag können uns diese Strategien behindern und für viel Leid sorgen. Situationen wie Konflikte am Arbeitsplatz oder in der Beziehung, Zeitdruck oder finanzielle Probleme werden von unserem autonomen Nervensystem häufig als Bedrohungen gedeutet und lösen früher oder später eine akute Stressreaktion aus (aktivierter Sympathikus). Allerdings lassen sich die wenigsten dieser Probleme durch Mobilisierung im Sinne von körperlicher Bewegung lösen, das heißt, ein Weglaufen löst das Problem nicht und Kampf auch nicht. Und wenn Mobilisierung nicht ausreicht, um der Bedrohung zu entkommen, rutscht unser Nervensystem in die Erstarrung (aktivierter dorsaler Vagus) – ein Mechanismus, der ursprünglich nur für lebensbedrohliche Ausnahmesituationen gedacht war.
Zusammengefasst beschreibt die Polyvagal-Theorie die physiologischen Grundlagen, wie wir auf Stress (und Trauma) reagieren und wie unsere biologischen Systeme durch soziale Beziehungen reguliert werden.
Die gute Nachricht: Was erlernt ist, wie die Reaktionsweisen des ANS, kann verändert werden – und zwar durch Training. So können wir auch unser ANS trainieren und dafür sorgen, dass der ventrale Vagus – unser Sicherheitssystem – so oft wie möglich aktiv ist. Dies ist die Voraussetzung für eine gesunde Selbstregulation.
Praktische Anwendung der Polyvagal-Theorie in der Paarberatung
Wie konnte diese Information nun dem Ehepaar W. helfen?
Anhand der sogenannten „Aktivierungskurve“ erklärte ich die oben beschriebenen Erregungszustände des autonomen Nervensystems. Die Aktivierungskurve ist ein zentrales Konzept im Somatic Experiencing®, einer therapeutischen Methode zur körperorientierten Verarbeitung von Stress und Trauma.
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Sowohl Herr als auch Frau W. hatten Aha-Erlebnisse: Sie konnten sich sofort auf dieser Kurve einordnen. Frau W: „Wenn ich von der Arbeit heimkomme, bin ich voll im gelben Bereich!“ Herr W: „Ich auch, wenn Du Deinen Frust rauslässt! Inzwischen bin ich aber immer öfter im roten!“ Die beiden schauten sich an. Klar, dass so kein entspanntes, liebevolles Miteinander möglich war. „Konstruktive Gespräche, ruhiger Austausch, auch körperlicher Kontakt sind nur im grünen Bereich möglich“, fügte ich hinzu. Eigentlich war damit meine Arbeit fast beendet, denn das Ehepaar W tauschte sich jetzt über das Erleben in allen möglichen Situationen aus und wo sie sich jeweils auf der Aktivierungskurve einordnen würden. Und was sie tun könnten, um jeweils in den grünen Bereich zu kommen, das heißt, um sich selbst zu regulieren. Denn dafür hatte jeder der beiden eigene Strategien und Ideen (Radfahren, Schwimmen, kurz hinlegen, Motorradfahren…).
Zur nächsten Stunde brachten die beiden ein Foto mit: „Unser Stimmungsbarometer!“ Sie hatten zusammen ein „Barometer“ mit zwei Seiten gebastelt, das ein wenig der Aktivierungskurve glich. Das Barometer stand zu Hause direkt neben der Wohnungstür. Wer nach Hause kam, stellte direkt den eigenen Zustand des Nervensystems darauf ein, so dass der andere sah, was gerade los war. Kam Frau W. als erstes nach Hause und war im gelben Bereich, wusste Herr W.: Jetzt sind gerade keine Gespräche möglich. Sobald sich etwas am eigenen Zustand änderte, stellten sie das auf ihrem Barometer ein. Waren beide im grünen Bereich, setzten sie sich in der Küche zusammen und sprachen über ihren Tag oder was sonst Thema war. Jeder regulierte das eigene Nervensystem zunächst bei Bedarf selbst, bevor die „beiden Nervensysteme“ miteinander Kontakt aufnahmen.
Ergebnis und Fazit
Herr und Frau W. verstanden nun selbst, ihre eigenen Reaktionen und auch einander besser. Und sie hatten nicht nur für sich als Paar eine Strategie entwickelt, um liebevoller und konstruktiver miteinander umzugehen, sondern auch für sich selbst und für die eigene Regulation. Sie meldeten mir nach der vierten und letzten Sitzung zurück, dass sich die Qualität ihrer Beziehung deutlich verbessert habe und sie endlich wieder gemeinsame Aktivitäten unternähmen. Herr W. wolle nicht mehr ausziehen.
Frau W. wurde klar, dass sie etwas an ihrer beruflichen Situation bzw. an ihrer Haltung zur Arbeit ändern wollte, denn der aktuelle Stress-Level wirkte sich nicht nur auf die Beziehung, sondern auch auf ihre Gesundheit aus.
Fazit für mich als Beraterin: Die Polyvagal-Theorie als Grundlage der Therapie und Beratung hatte sich wieder einmal als sehr hilfreich erwiesen – nicht nur für mich, sondern auch für das Paar, das seine eigenen Verhaltensweisen nun viel besser verstand und auf dieser Basis etwas ändern konnte.
Literaturempfehlungen
Hoffmann, Solveig: Der Ventrale Vagus – Verstehen und Üben. Tredition, 2021.
Jochims, Inke: Meistere den Stress. Eine Einführung in die Polyvagal-Theorie. Books on demand, 2020.
Porges, Stephen: Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit. Traumabehandlung, soziales Engagement und Bindung. Probst, 2023.
Pusch, Anja: Tigerfeeling für die Seele – Der Angst begegnen mit CANTIENICA Körper in Evolution. Tredition, 2023.
Rosenberg, Stanley: Der Selbstheilungsnerv. VAK Verlags GmbH, 2020